Presse


ausführlichere Texte:
4 Suiten zu Viktor (Patrick Müller, Text zu CD)
Gegen die Systeme ankomponieren (Thomas Meyer, Tages-Anzeiger)
Streif(f)lichter (Rico Gubler, Positionen Nr. 44)
"...weisses Blatt Papier..." (Patrick Müller, Interview)
das erlösende Moment am Doppelstrich (Dissonanzen Nr. 78)

Interview (von Patrick Müller)


"....weisses Blatt Papier..."

Das weisse Blatt Papier ist insofern inexistent, als der Kompositionsprozess immer ein oder zwei Monate ohne eigentliche Fixierung vonstatten geht, als das weisse Papier also eigentlich nur im Geist vorhanden ist. Die Anlaufschwierigkeiten spielen sich denn auch eher im Vorstellungsbereich ab. Das ist vielleicht auch ein Grund, weshalb meine Stücke in den meisten Fällen relativ kurz sind: der Geist vermag vielleicht nicht über sieben oder acht Minuten hinauszugreifen. 
Wenn ich mich dann ans eigentliche Schreiben mache, gibt es meistens bereits eine ziemlich klare Matrix und auch klanglich eine recht deutliche Vorstellung, die dann aber natürlich im Notationsprozess noch bearbeitet oder geändert wird, durchaus auch grosse Veränderungen durchmachen kann. Aber eigentlich beginne ich erst zu schreiben, wenn ich weiss, wie ein Stück zu Ende gehen wird. 

Welche Vorstellungsbereiche stehen bei diesem Beschreiben des gewissermassen geistigen Papiers im Vordergrund?

Zentral ist dabei immer, eine musikalische Form zu gestalten ? und damit sind wir schon mitten im Zentrum meiner Arbeit ?, die nicht der üblichen Vorwärts-Rückwärts-Dramaturgie folgt, eine Form also, die einerseits auf Überraschungen basiert, andererseits aber in keinem Augenblick voraussehbar ist. Ich lehne Verfolgbarkeit im herkömmlichen Sinne wie auch das gewissermassen mathematisch Zwingende ab. Am Schlimmsten finde ich dieses «Es-ist-halt-gut-gemacht»-Syndrom, dass man also dem Hörer eine lange Nase zieht, ihm aber gleich wieder zeigt, wo man ist. Natürlich hat man immer ein Bedürfnis nach Stringenz, aber ich will einfach nicht das Gefühl haben, dass jeder genau weiss, wo er jetzt gerade ist im Stück, auch ungefähr weiss, wie lange es noch dauern wird. 
Ich glaube, in der Neuen Musik gibt es immer noch eine Art romantischer Formdoktrin, die auch weitgehend befolgt wird. Dies hat vorab damit zu tun, dass man die meisten Modulationen und Übergänge in einem Stück auch rückwärts begehen kann. Und das mag ich überhaupt nicht. Ich möchte eher Modulationen, die in ihrer Verlaufsform der chemischen Reaktion zweier Substanzen ähnelt, also nicht umkehrbar ist. 
Als Komponist stehe ich bei diesem Verfahren gleichsam vor einer Black-box. Wenn ich mir eine Form vorstelle, versuche ich, diese über gewisse kompositorische Systeme zu erreichen. Ob die Form funktionieren könnte, merke ich erst, wenn ich das Stück aufgeschrieben habe oder wenn ich vorher etwa eine graphische Grossskizze mache. Ob sie dann wirklich funktioniert, weiss ich oft nicht einmal nach der Uraufführung. Dabei ist es nicht so, dass ich die formalen Strukturen nicht «herkömmlich» will, wenn ich durch «Herkömmlichkeit» erreichen kann, was ich möchte. 

Manche Deiner Stücke haben klare, leicht verfolgbare Anfangsstrukturen, die dann nach und nach zu zerfallen scheinen; vielleicht könnte man von Decrescendo-Formen sprechen. Soll sich beim Hören die Aufmerksamkeit also weg von der Grossform und hin zum Augenblick verschieben?

Die Anfangsstrukturen sind meistens vollgepakt mit klanglichen Informationen, man kann da eigentlich sehr gut mit traditionellen Erwartungshaltungen reagieren. Aber es geht mir nicht darum, mit diesen im üblichen Sinne zu spielen, sondern sie wirklich aufzubrauchen. Und dadurch soll im Hören eine grosse Unsicherheit entstehen. Denn alles was sicher ist, finde ich eigentlich arrogant. Die Grossform ist dabei insofern wichtig, als die angestrebte Orientierungslosigkeit gar nicht zustande käme, wäre man nicht auf eine Grossform konditioniert. Ich möchte Situationen herbeiführen, wo man auf einmal ganz woanders ist, und zwar plötzlich, wo man sich also unvermittelt neu orientieren muss. Und dies ist oft sehr spannend, aber auch oft sehr anstrengend mit den Interpreten, denn nicht einmal so sehr beim Komponieren selbst, aber bei der Arbeit mit Interpreten merke ich, wie ungewohnt diese Formen eigentlich sind.

Dem Klavierquartett «Weh mir, wo nehm‘ ich, wenn es Winter ist, die Blumen…» (1997) spielt an einen Text Friedrich Hölderlins an, der im Stück selber allerdings nicht erscheint; auch dieses sehr bekannt Gedicht, «Hälfte des Lebens», handelt in seinen zwei gegensätzlichen Strophen von einem Übergang, äusserlich vom Herbst in den Winter, metaphorisch vom Leben in den Tod.

In diesem Gedicht macht Hölderlin genau das, was mich interessiert. Mit dem ersten Wort der zweiten Strophe, die den Werktitel gegeben hat, kann man nicht mehr zurück ? nie mehr. Und genau um diesen Schritt geht es: was passiert eigentlich zwischen diesen zwei Strophen. Das ganze Stück befindet sich nur zwischen diesen beiden Strophen. Im Klavierquartett wird der energiereiche Anfang einfach heruntergebremst, und dann ist man in einem völlig anderen Gebilde. Man sieht dann nur noch die Pianistin, die irgend etwas macht, man hat vorerst keine Ahnung, was genau. Interessiert hat mich das Phänomen einer Angewöhnung des Gehörs. Dabei ist die Modulation vom Anfangsteil zum gleichsam ausgebremsten zweiten Teil eigentlich so beschaffen, dass man ehrlicherweise nicht mehr in die Ausgangsposition zurückkehren kann. Man muss sich völlig neu orientieren ? der Gedanke liesse sich bis ins Politische weiterverfolgen. 

Du hast vorher von kompositorischen Systemen gesprochen, die Du benutzt. In welchem Verhältnis stehen diese zur klanglichen Realisierung bzw. wie funktionieren sie auf der Wahrnehmungsseite?

Das ist eigentlich ganz verschieden. Gerne benutze ich Systeme, die nicht im seriellen Sinne auf einzelne Parameter einwirken, sondern die dazu da sind, nicht da zu sein. «Streif(f)lichter einer Morgensstunde» (1996) für Violine solo zum Beispiel ist genau dem Sprechgestus des zugrundeliegenden Textes von Robert Walser entlang komponiert. Da ist zwar ein ganz klarer Zusammenhang, doch würde man das nie hören, und dazu ist es auch da, damit man es nämlich nicht hört. Ich habe mit zwei Tempoebenen, die sich überlappen, gearbeitet. Es kann sein, dass man im langsamen Tempo schneller spielen muss als im schnellen Tempo langsamer, dass man also im (langsamen) schnellen Tempo sein kann, aber unter dem (schnellen) langsamen. Und dies ist äusserst nahe an der sprachlichen Diktion. Der Interpret spricht dann im Verlaufe des Stückes auch wirklich zu seiner Geige, nicht zum Publikum, er spricht zur Geige und durch die Geige wieder zu sich selbst. Das Monologische ist in diesem Stück zentral.
Es geht in dem Stück aber auch um eine persönliche Auseinandersetzung mit Walser. Ich habe nicht versucht, seinen Text zu vertonen, sondern wollte mit den gleichen Voraussetzungen wie Walser dieses Stück als Komponist schreiben, erimprovisieren. Bei Walser ist das Improvisando sehr wichtig und steht im Vordergrund, und gerade deshalb sehe ich Walser nicht in erster Linie als kranke Persönlichkeit, sondern als höchst virtuosen Schriftsteller. Wenn man so improvisieren kann, dann ist das ein Hauptmerkmal dieses Menschen. Und so habe ich versucht, mit einer ganz leeren Form, die ich mir vorgegeben habe, improvisativ voranzuschreiten. Es handelt sich um einen Versuch über das Sprechen und die Sprache, eigentlich ohnehin das Wichtigste für mich.

In anderen Stücken sind die zugrundeliegenden Strukturen einfacher zu erkennen, oft scheint es darum zu gehen, ähnliche Strukturen immer neu zu wenden.

"...oft gänzlich nebensächlich..."(1995) für Sopransaxophon, Violoncello und Tonband arbeitet mit einem Mehrspurverfahren: es spielen eigentlich sechs Saxophone und sechs Celli, je fünf vom Tonband, je eines live. Die beiden Spieler hören sich gegenseitig nicht, sie sind über einen Klick-Track koordiniert, und so gibt es minimale Verschiebungen, auch bei den sehr zahlreichen Unisono-Stellen. Diese Verschiebungen werden auch auf einer höheren Ebene aufgenommen, so gelangt man beispielsweise plötzlich zu einer Stelle, wo das eine Instrument eine grosse Quintole spielt und das andere eine kleine, so dass die eine Stimme plötzlich einen Viertel Vorsprung hat. Diese Komponente ist sehr wichtig, es wird eigentlich über das ganze Stück nur mit diesem System gearbeitet.
Bei «Network» (1997) für Flöte, Viola und Harfe bin ich von einer improvisierten graphischen Form ausgegangen. Zuerst habe ich ein Solostück geschrieben und dieses dann auf die anderen Instrumente übertragen. Es spielen jetzt alle drei Instrumente dieselbe Struktur im ganzen Stück: drei Stimmen, die immer dasselbe sagen, aber doch immer angepasst an das jeweilige Instrument.
Der Titel von «In Sand gemeisselt» (1998) für Viola, Violoncello  und Schlagzeug ist wörtlich gemeint, es geht darum, Dinge zu fixieren, die sich sofort wieder zudecken, wie Fussspuren im Sand also, die sich gleich wieder auflösen. Es gibt darin zwei Elemente: eine Schlagzeugmelodie und eine Art Schleier, der gleichsam darübergelegt ist. 

Bereits mehrfach haben wir in unserem Gespräch den Begriff «Improvisation» gestreift. Wie siehst Du, der ja auch selbst improvisiert, das Verhältnis zwischen Komposition und Improvisation in Deinen Werken?

Ich versuche wirklich auf dem Blatt Papier zu improvisieren, ein Instrument benutze ich beim Komponieren nicht. Gewiss dürfte der Wunsch, näher ans Instrument heranzugehen, damit zu tun haben, dass ich sehr viel improvisiere. Es gibt zwar nichts eigentlich Improvisatorisches in meinen Stücken, aber vielleicht rührt eine Art Entdeckungsfreude von daher, dass man mit der Zeit einfach weiss, was aus einem Instrument herauszuholen ist. Vielleicht auch aus diesem Grund versuche ich, sehr genau zu notieren, denn aus der Improvisation weiss ich, dass man nur dann gut spielt, wenn man ganz genau weiss, was man wagen kann, wenn man also nicht einfach ausprobiert. Komponisten, die improvisieren, schreiben entweder ganz offen, oder aber äusserst genau. 

Und Du kommst nicht in Versuchung, auch einmal in Deinen Kompositionen mit offenen Formen zu experimentieren?

Ich will die Instanzen Interpret, Komponist und Improvisator sehr klar trennen: Ich spiele keine eigenen Stücke, ich benütze keine offenen Formen in meinen Kompositionen, usw. Es gibt nur eine einzige Ausnahme: im Duo mit Urs Leimgruber tasten wir uns immer wieder an die verbindenden Punkte zwischen improvisierter und komponierter Musik vor. Doch beim Komponieren habe ich das Gefühl, dass ich offene Formen noch nicht verwenden kann. Ich habe Angst davor, weil es so viele Beispiele gibt, in denen es einfach nicht klappt. Für mich ist Improvisation eigentlich das Schwierigste, was es überhaupt gibt. Denn da ich nur frei improvisiere, heisst dies: allerhöchste Verantwortung. Ich gehöre offenbar einer Improvisatorengeneration an, die äusserst scheu ist gegenüber allem, was sich mit Begriffen wie «anything goes» oder «jeder ist ein Künstler» zusammenfassen lässt. Meines Erachtens gibt es keine demokratische Musik. Die einzige Möglichkeit, in der Musik irgendwelche politischen Aspekte zu haben, ist die Förderung der Differenzierungsfähigkeit.