Presse


ausführlichere Texte:
4 Suiten zu Viktor (Patrick Müller, Text zu CD)
Gegen die Systeme ankomponieren (Thomas Meyer, Tages-Anzeiger)
Streif(f)lichter (Rico Gubler, Positionen Nr. 44)
"...weisses Blatt Papier..." (Patrick Müller, Interview)
das erlösende Moment am Doppelstrich (Dissonanzen Nr. 78)

Positionen  (Beiträge zur Neuen Musik) Ausgabe 44 August 2000

Streiflichter

von Rico Gubler


Sehe ich mich mit der Aufgabe konfrontiert einige Zeilen über Sinnlichkeit in meiner kompositorischen Arbeit von mir zu geben, stockt mir das Herz, da ich mich unvermutet gezwungen sehe, Vorgänge in einer Sprache  über Kompositionsästhetik nachzuvollziehen, an denen ich mich seit geraumer Zeit reibe 
-  auf der Suche nach mehr Sinnlichkeit in der Musik, Überraschungen, alogischer Folgerichtigkeit und ähnlichem mehr. Um meiner kompositorischen Absicht ein entsprechendes schriftliches Pendant beizusteuern, sähe ich mich gezwungen dem europäischen dialektischen Denken eine Argumentationssprache entgegenzusetzen (schon gefangen!), die nicht un-, sondern adialektisch wäre, um Jean Gebsers Hilfskonstruktionen in Gedanken zu streifen. Da es mir in dem zu erforschenden Raum an Klarheit und Durchsicht fehlt, will ich in diesem Text ein paar Ansätze formulieren, die mir als Ausgangspunkte für meine kompositorische Arbeit wichtig erscheinen, ohne dem Leser Erkenntnisse oder Resultate vorzugaukeln.

Ist Leben und Musik nicht auch das Erhaschen des kostbaren, einzigartigen Augenblickes, die Bewunderung des alles entscheidenden und einzig lebenswerten Zeitmomentes, dessen Auskosten Menschen in ekstatische Höhen entführt und ihnen ? vielleicht - einen tiefen Sturz oder gar den Tod beschert hat und genau diese Faszination scheint langsam auch die allzu ernste zeitgenössische Musik der letzten Jahrzehnte einzuholen, die oft mit strenger Kontrolle, akribischer Denkarbeit und dem Streben nach vollständiger Verarbeitung als vorrangigste Motive operiert hat.

Allenfalls im Fach Musikgeschichte vage oder intensiver von serieller Musik gestreift, entstamme ich einer Generation, die mit wachsendem Unverständnis Interpreten und Komponisten, die andauernd behaupten irgendwelche Probleme gelöst zu haben, gegenübersteht. Genau aber diese Generationen beneide ich um die Hindernisse und Reibflächen, die ihnen in einer, aus heutiger Sicht  einfachen und pauschalen Weise von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt wurden, auf dass man laut, komplex, konsequent und kompromisslos diese mit Musik bekomponiere. Glücklich meiner E-Gitarren- und Selfmadejugend (meine Eltern mussten sich nicht mal mehr zwischen Autorität und Antiautorität entscheiden) entronnen, finde ich mich  in einer veränderten Musikwelt wieder, in der ich verzweifelt nach diesen Reibflächen und Hindernissen suche, die mir helfen könnten,  den Geruch von frischer Musik, die aktive und ernsthafte Auseinandersetzung verquickt mit dem Rausch des Musikantischen wiederzufinden. Die Interpreten meiner Werke auf eine interessante Reise zu schicken, ihnen trotz sehr genauen Textangaben die Lust an persönlicher Freiheit und an ihrem Instrument nicht zu nehmen liegt mir sehr am Herzen. Wie die Zeit der Totalverweigerung und "Jeder ist ein Künstler"-Gesellschaft, ist auch das Komponieren gegen das Instrument und gegen den Instrumentalisten eine Arbeit, die  bereits andere für uns erledigt haben. 
Da ich davon ausgehe, dass auch die Musik in erster Linie eine Kunst der Differenzierung ist, setzte ich für meine Arbeit feinstmöglichste Artikulationsgenauigkeit,  ausgehend vom Artikulieren im sprachlichen Sinne voraus, die nur durch Verinnerlichung von Seiten aller Beteiligten erreicht werden kann.

Die einzige Tatsache, die meinem Klavierquartett aus dem Jahre 97 einen Ausschnitt aus Hölderlins "Hälfte des Lebens" als Arbeitsmotto und später als definitiver Titel eingetragen hat, ist aus äusserlicher Sicht banal, das Klavierquartett stellt einen Versuch dar, den zerbrechlichen und nicht mehr wiederbringlichen Augenblick zwischen den beiden Strophen zu beleuchten.
Ich habe versucht in grossformaler Hinsicht, und vor allem in Bezug auf Modulationen jeglicher Art, den, nunmehr ziemlich perfektionierten Kontrollmechanismen auszuweichen, die vorwiegend auf bedingungsloser Umkehrbarkeit (und somit Wirkungslosigkeit auf die jeweiligen "Ziel- und Startregionen") aufbauen.

Hälfte des Lebens

Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See.
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.

Weh mir, wo nehm‘ ich, wenn 
Es Winter ist die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn,
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.     (Friedrich Hölderlin)
WEGE

Als spannend erachte ich Modulationen und deren Auswirkungen auf die "umliegenden Klanglandschaften", die nicht mehr durch eine sichere Anwendung von objektiven Überlegungen kontrolliert werden, d.h. jene ,die nicht in chirurgisch sauberer dialektischer Manier vollzogen, hin- und zurückreichend, besser: hin- und herreichend, den gefahrlosen Wechsel von einem Teil in den anderen zulassen ohne Schaden zu hinterlassen, vor allem aber ohne hinter sich eine Tür auf immer zu verschliessen und somit eine Gegend für immer zu verlassen. 

Anschaulich finde ich dabei die Vorstellung von Gedankenmodellen chemischer Reaktionen, die wir eher wie ein Blackboxverfahren erleben, die aber vor allem  fähig sind gültige, richtige oder was auch immer für Resultate hervorzubringen, und diese  im Zusammenhang als stringent betrachten werden müssen. Zu wissen, was im Innern der Blackbox  tatsächlich geschieht, bleibt uns aber grösstenteils noch verwehrt. Auf die Musik übertragen führt dies - in der uns angelernten Hörgewohnheit -  zu Unverständnis, und birgt somit die Tendenz in sich, eine Komposition  vorschnell als formalen "Problemfall" zu disqualifizieren..
Vergleichbar einem Chemiker der gezwungen ist Theorien aufzustellen was genau sich wohl in dieser Blackbox abspielen könnte, versuche ich mir ein musikalisches Szenario vorzustellen, in dem sich Texturen verändern und lasse durch diese unsichere Blackboxsituation viel Raum für Fantasie und Intuition, ohne mich der Welt der Konstrukte und Berechnungen entziehen zu müssen. Zum Beispiel mag ich formale Mechanismen die Musik und deren Energie zu "fressen" fähig sind ohne sie zu dekonstruieren (quasi musikalische schwarze Löcher). Dies ist unter anderem eine rein energetische Wahrnehmung, die aus einer Rhythmusbehandlung ableitbar ist, die in der Jazzmusik seit Jahren ohne grosse Worte benutzt wird. Für mich ist diese Vorstellung während des Kompositionsprozesses sehr wichtig, um auch der ewigen "Kopf-Bauch-, Intuition-Kalkulation-Diskussion" zu entkommen und so mit voller Freude mit dem Kopf zu fühlen und dem Bauch zu denken!

Sowohl beim Schreiben wie auch beim Interpretieren oder in der Improvisation lege ich grossen Wert auf die Arbeit mit dem Gestus der gesprochenen Sprache.
Mittelpunkt meines Interesses ist das Erforschen des bis ins Verzerrende pervertierbaren Freiraumes der individuellen Ausformung der Artikulation und des Textflusses, andererseits aber auch das Ausformulieren von Gemeinsamkeiten beim Artikulieren von Phrasen, Wörtern, bis hin zum Formantaufbau der einzelnen Phoneme. 
Dem Werk Streif(f)lichter einer Morgenstunde (1996) für Violine  liegen in dieser Hinsicht drei Überlegungen zugrunde. Mit dem Kurztext Morgenstunde des Schweizer Autors Robert Walser nahm ich keine Textvertonung vor, sondern quasi eine Schreibvorgangsanalyse, um den künstlichen Improvisandovorgang, obwohl sehr streng durch Wortfelder kontrolliert (bei Walser sind die unbedeutenden Beiwörter die stimmungsgenerierende Essenz), in Form einer musikalisch-fabulierenden Arbeit nachzuvollziehen. Der Text taucht nur in kurzen Fragmenten, durch den Ausführenden quasi in die Geige geflüstert, auf. Diese Textbehandlung scheint für mich beinahe von Walser selbst vorgegeben, durch die Hermetik seiner Texte, der Vermeidung jeglicher echten Dialogform und seinem virtuosen Umgang mit Sprachfloskeln und ?feldern. Das Flüstern gibt der Stimme eine völlig veränderte Formantgestalt, der ich versucht habe in der Ausgestaltung der Geigenstimme Rechnung zu tragen.
Ein wichtiger Punkt in der Gestaltung des Musikflusses besteht für mich in der Wahl verschiedener, sich überlagernden Temposchienen, da ich versuche dem fixierten Gestus eine Individualität durch den Interpreten wieder zurückzugeben, was in Rücksicht auf dessen persönliches Artikulationsverständnis, dem Ansprache- und Klangverhalten seines Instrumentes, wie auch in Rücksicht auf die jeweilige Aufführungsatmosphäre zu geschehen hat. Um dies zu erreichen strebe ich eine Wechselwirkung zwischen  einer sehr flexiblen Tempogestaltung und einem klaren, bis teilweise pedantischen Ausformulieren der verschiedenen Klang- und Spielanweisungen, an. Der Interpret soll eine individuelle Interpretation erarbeiten, die in Hinsicht auf die oben genannten Parameter stimmig ist. In Streif(f)lichter einer Morgenstunde besteht die Zeitorganisation aus zwei sich annähernden Tempobereichen (Viertel=54-76 und 88-126), die durch verbale Anweisungen, vor allem aber durch den auszuführenden Notentext genauer definiert sind. 

Weiterführend benutze ich dieses System in offen gefaltet (1999), für Violoncello solo. Die drei Temposchienen überlappen sich nun (Viertel=80-132, 60-96 und 40-72), das heisst, man erhält die Möglichkeit, ein schnelles Tempo langsamer zu spielen als ein langsames Tempo schnell sein kann, was theoretisch Schwachsinn ist, praktisch aber beinahe Grundlage jeglichen Musizierens ist. Dieses Vorgehen scheint mir geeignet, sprachliche und musikalische Gesten einzufangen, und dem angenehm beruhigenden und alles umspannenden, aber nivellierenden Grundpulsieren zu entkommen.